Glücksfall Claas Relotius

Die Aufdeckung der Schandtaten des Betrügers und Hochstaplers Claas Relotius ist ein Glücksfall für die Journaille.

Für meine immerwährenden Mahnungen und das Aufzeigen von anmaßenden Vermutungen über im Spiegel berichtete Personen erntete ich bisher maximal den Ruf des Nestbeschmutzers. Das tut man doch nicht, so schreibt man doch nicht über Kollegen. Doch: Tut man, wenn einem die Sache, der Journalismus, wichtiger ist, als diejenigen, die sie ausführen.

Ein Link über einige meiner Veröffentlichungen über die Jahre dazu.

Leider glaube ich nicht, dass der Fall Relotius ein Einzelfall in der Journaille ist. Er ist die Spitze des Eisbergs, die endlich zu Tage trat.

Die Crux liegt in der Tendenz des Geschichtenerzählens statt der Präferenz der Nachricht und der eigentlichen Information, die an den Leser vermittelt werden soll. „Spannend und lesbar zu schreiben“ setzt seit einigen Jahren voraus, dass man alles in die Erzählform der Geschichte packt. Ohne mindestens drei Protagonisten, die mit Vor- und Nachnamen die Information „visualisieren“ sollen, braucht man keinen Beitrag mehr an ein hochrangiges Blatt in diesem Land anbieten.

Der kleine, feine Unterschied

Wenn ich einen Roman lesen will oder eine Kurzgeschichte, dann tue ich das. (Und in meinem Fall sogar recht häufig.) Das aber suche ich nicht im Spiegel, dort will ich objektiv über Nachrichten und Hintergründe informiert werden. Mit Menschen, die tatsächlich für den Inhalt notwendig sind, um die Information rüber zu bringen – nicht austauschbaren Protagonisten, bei denen man auch einen anderen Menschen einsetzen hätte können. Das ist der Unterschied bei den Personen in einer Geschichte.

Gute Journalisten brauchen keine Protagonisten oder einen Handlungsstrang, um eine Information lesbar an den Leser zu bringen. Das sollte einer der Unterschiede zwischen 08/15-Schreibern im Netz und einem ausgebildeten Journalisten sein.

Besserwisser und Gedankenleser
Gute Journalisten sollte sich vom „ich kann auch schreiben und veröffentliche daher“-Mitmenschen unter anderem darin unterscheiden, dass erstere gründlich und nachvollziehbar recherchieren.
Dazu zählt, dass der Leser weiß, wer was wann gesagt hat, und wenn einer schon meint, seine eigene Meinung als Journalist kundtun zu müssen, dies ausdrücklich als Feuilleton oder (Buch-)Besprechung oder ähnliches kennzeichnet. In einem Bericht, einer Nachricht oder einer normalen Informationsgeschichte hat die persönliche Meinung des Schreiberlings nichts verloren.
Sätze wie „Angela Merkel findet an solchen Spielchen wenig Gefallen“ (Der Spiegel 34/2010), oder „Merkel weiß, dass die kommenden Monate über ihre Kanzlerschaft entscheiden“ (Der Spiegel 35/2010) sind unsauber und lassen sich bestenfalls dem Gedankenlesen oder einer Wunschvorstellung zurechnen. Beispiele fürs Gedankenlesen der Spiegelschreiber finden sich in fast jedem politischen Artikel mehrfach.

(Zitat von http://www.kleisny.de/blogd vom 7. September 2010

Dieses „Merkel denkt…“ und „Merkel (oder eine andere Person) will…“ hat mir schon immer aufgestoßen. Der Spiegel ist Vorreiter darin, öffentlich zu erklären, was andere Personen denken, wollen oder wie sie fühlen.

Wo bleibt dabei die gute Schule der Journalisten-Ausbildung, in der man Personen selbst zu Wort kommen lässt – nennt sich: wörtliches Zitat –, statt die Meinung des Schreibers unverblümt der handelnden Person zu unterstellen?

Gelegenheit macht Diebe und eine falsche Präferenz auf Geschichten, die in einem Nachrichtenblatt nichts zu suchen haben, auch.

Die Herabsetzung des Lesers

Und deshalb ist der Fall Claas Relotius nur die Spitze des Eisbergs. Es ist die Überhöhung der Einordnung des Schreibers, anstatt dem Leser Fakten zu vermitteln und ihn/sie selbst diese einordnen zu lassen. Es ist eine Herabsetzung des Lesers, dies für ihn oder sie zu übernehmen.

Weitere Beispiele, in denen ich das wieder und wieder angekreidet habe.

Glücksfall Relotius, weil…

…er vielleicht endlich ein Aufwachen in der Branche bewirkt. Erste zarte Pflänzchen im Spiegel sind sichtbar.

So überwiegen in der derzeitigen Ausgabe des Spiegels endlich nicht mehr die endlosen (aus meiner Sicht schon immer furchtbar langweiligen) Geschichten. Überflüssig, weil sie mir für die Infovermittlung der Tatsachen zu viel unnötige Zeit kosten. Ich will mich für den Informationsgewinn nicht in so viele Personen in einem Heft hineinversetzen müssen, die ich nach dem Lesen sofort wieder als solche vergessen kann, weil sie für die Information an sich nicht notwendig sind.

Information statt Geschwafel –

– das wünscht sich ein Leserbriefschreiber im Spiegel. Ich scheine nicht die Einzige zu sein, die sich auf die endlosen „Manuels, Michaels und Muhammeds“ nicht mehr einlassen möchte.

Wie man bei politischen Vier-Augen- oder sonst wie internen Gesprächen – bei denen der erzählende Autor offensichtlich nicht dabei war – schreiben kann, was die beiden gefühlt haben, wie sie etwas beurteilen, war mir schon immer schleierhaft.

Und wie eine 60-Personen Dokumentationsabteilung, nicht einmal eine geografische Entfernung* richtig checken stellen kann… da fehlen mir die Worte. Bis auf zwei: überflüssig und auflösen.

*von Fergus Falls nach New York, laut Spiegel Nr.1/29.12.2018 (ja, so ist die Ausgabe benamst.)

Wolkige Entschuldigungen

Wenn man intern das Entsetzen über die Taten Relotius‘ und die Täuschung der Leser ernst nehmen würde, könnte man ja Printabonnenten statt lapidarer Entschuldigungen einige Monate kostenfrei online lesen lassen oder andere Wiedergutmachungen finden.

Nichts, niente, nada. Nur wolkige Aussagen.. wie schlimm das doch alles sei. Übrigens: der Konjunktiv – eine Grammatik-Form die dem Spiegel schon lange entfallen ist bei der Berichterstattung. Tipp: Könnte man auch wieder einsetzen.

Dank seiner großen, hochqualifizierten Redaktion veröffentlicht der SPIEGEL – anders als die meisten Tageszeitungen und weniger aufwendig arbeitende Zeitschriften – fast ausschließlich selbstrecherchierte, exklusive Beiträge. Nicht zuletzt dieser Tatsache ist auch zuzuschreiben, dass der SPIEGEL eine relevante Informationsquelle für Journalisten sowie das meistzitierte deutsche Medium ist

An Hochmut mangelt es nicht: Text aus dem Spiegel Impressum, 1.1.2019

Zumindest in meinem Fachbereich gilt der oben letzte zitierte Satz für den Spiegel und mich als Journalisten nicht.

Wie geht es weiter?

Habe im derzeitigen Spiegel sogar ein „vermutlich“ gefunden! Noch wirkt es für einen langjährigen Spiegelleser wie mich hineinredigiert, so ungewohnt ist das Wort bei einer Tatsache, die der Autor jemanden unterstellt. Aber die Tendenz geht schon einmal die richtige Richtung.

Abwarten. Hoffen.

Und ansonsten werde ich weiter kritisch informieren.


Kommentare

2 Antworten zu „Glücksfall Claas Relotius“

  1. astroklaus

    Ich gebe zu, daß ich den SPIEGEL schon seit sehr langer Zeit fast gar nicht mehr lese, und es auch immer ein wenig seltsam fand, wenn sich die Rundfunkmeldungen regelmäßig Montags eifrig bemühten: „Wie der SPIEGEL in seiner heutigen Ausgabe berichtet…“.
    Ich bin „nur“ Physiker, den Journalismus habe ich meinem Vater und meiner Schwester überlassen.
    Zu dieser Abstinenz haben mich (unter anderem) die Beschreibung der „tieferen Einsicht“ in die Gedankengänge anderer Personen bewogen, die zu diesem Zeitpunkt nachweislich keinen Besuch eines Journalisten hatten.
    Davon insbesondere zwei: in einem Fall ging es um das Büro meines Vaters, in einem anderen um meinen Institutsdirektor und Doktorvater; Gedankengänge und Verhalten wurden im jeweiligen Artikel detailliert und plastisch beschrieben. Nur – diese Detailtreue war nicht nur technisch unmöglich (es war ja kein Zeuge anwesend), sondern auch für jeden offensichtlich falsch, der die betreffenden Personen kannte.
    Das ist nun schon weit über 20 Jahre her und insofern mag der aktuelle Fall neu wirken. Für mich war es eher ein déja-vu: ach, die schreiben immer noch so..

    1. Ich erinnere mich an meine Zeit bei den Scienceblogs (die Anfänge von flugundzeit), dass einige der schreibenden Kollegen dort (Wissenschaftler und nicht Journalisten) vor allem Spiegel Online sehr kritisch sahen, was ihr Fachgebiet betrifft.

      Aber bisher ist jede noch so handfeste sachliche Kritik am Spiegel einfach abgeperlt. Deshalb sehe ich jetzt einen zarten Hoffnungsschimmer, dass ein derartig einschneidender Skandal wie der Relotius Fall nun etwas ändert.

      Mal sehen. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Über die Autorin

Die Journalistin Helga Kleisny ist diplomierte Physikerin (TU Wien), Fallschirmspringerin und Pilotin. Nach Arbeitsorten weltweit (Wien, Taipeh, Boca Raton (FL), München, Frankfurt…) sind ihre Haupt-Lebens- und Arbeitsorte nun in Deutschland und in den USA. Sie schreibt als freie Luft- und Raumfahrtjournalistin. Ihre Begeisterung für alles Technische und die Natur, am besten in Kombination, zeigt sich in ihren Büchern und in Seminaren und Vorträgen.

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