Schon im Physikstudium lief der Plattwitz: Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast. Allerdings hatte die Allgemeinheit da noch keinen Zugang zu den schönen bunten Grafiken, die heute unseren (Corona-)Alltag bestimmen. Datendarstellungen erfolgten als Rohdaten in schnöder Listenform, bei der allemal die Datenauswahl den Betrachter geringfügig beeinflusste.
Heute gibt es sogar den Beruf des Datenjournalisten, also jemanden, der/die sich Daten selbst zusammensucht, oder von Programmen und Algorithmen vorgeschlagene Zusammenstellungen einordnet, bewertet und möglichst leicht verständlich für Jedermann und Jederfrau darstellt.
Je mehr Arbeit ein Mensch in die Verarbeitung der mathematisch neutralen Zahlen hineinsteckt und sie aufpeppt, umso mehr Gewicht erhalten persönliche und Firmen-Interessen. Chancen für Fehlinterpretationen poppen auf, und schon die Auswahl der Daten zur optischen Darbietung ist eine Wertung, bildet eine Gewichtung.
Falsche Prozentzahlen
Pressemeldung zur Corona-Warn-APP des Bundes:
Die App wurde bisher 13 Mio Mal heruntergeladen, das entspricht 15,6 % der Bevölkerung.
Das ist Suggestion, die dem Leser nahe legt, dass 15,6 % der Bevölkerung die App installiert haben. Falsch. Ich alleine kenne drei Personen, die die App sowohl auf dem Diensthandy als auch auf ihrem privaten Handy installiert haben…
Was passiert, wenn…
Meine Skepsis in Seminaren und Weiterbildungen zur Datenaufarbeitung und -zusammenstellung mit nachfolgendem optischen Vereinfachen blieb; bei allen Nachfragen und vorsichtigen Hinweisen wie: Die aufgehübschte Darstellung der Zahlenwerte ist zu oberflächlich, zu ungenau, oder auch: Es suggeriert eine falsche Realität, wenn man den Nullpunkt aus grafischen Gesichtspunkten verschiebt und so weiter – derartige Einwände wurden stets konsequent abgebügelt.
Nun gibt es eine hoch wissenschaftliche Studie, veröffentlicht in der renommierten Zeitschrift Nature, die meine Überlegungen zur Subjektivität wissenschaftlich bestätigt: „Variability in the Analysis of a Single Neuroimaging Dataset by Many Teams„, Nature, 20 May 2020, DOI: 10.1038/s41586-020-2314-9.
Durch die Corona-Pandemie sieht nun auch die breite Öffentlichkeit Abend für Abend haarklein, wie neue Daten analysiert werden, wie Ergebnisse revidiert und die Daten neu bewertet werden. Unterschiedliche Experten liefern zum gleichen Datensatz unterschiedliche Prognosen. Die Ausbreitung des Virus, der Verlauf der Krankheit, die Auswirkungen auf die Wirtschaft sind je nach Expertenurteil voneinander abweichend und widersprechen sich sogar zum Teil. Empfehlungen, wie man der Gefahr am besten begegnet, hängen von gewählten Fachmann ab.
Das fiel sogar den Wissenschaftlern selbst auf und so haben sich rund 200 Forschende aus Neurowissenschaften, Psychologie, Statistik und Wirtschaft zusammengeschlossen, um herauszufinden, ob verschiedene Forscher auf Grundlage derselben Daten und Hypothesen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen.
…unterschiedliche Forscherteams unabhängig voneinander denselben Datensatz auswerten?
Eine großangelegte Studie untersuchte, wie sich die Art der Datenanalyse auf das Ergebnis auswirkt. Basis dazu waren komplexe Daten der bildgebenden Hirnforschung, im speziellen der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI). 108 Personen der Universität Tel Aviv nahmen daran teil.
Die Datensätze wurden dann an 70 Analyseteams auf der ganzen Welt verteilt, darunter an drei Teams aus dem Forschungszentrum Jülich (Institut Brain and Behaviour). Jedes Team analysierte unabhängig von den anderen die gleichen Daten mit seinen Standard-Analysemethoden um neun vordefinierte Hypothesen zu testen.
Nach drei Monaten Datenauswertung lieferten die 70 Analyseteams ihre Ja-Nein-Resultate für die verschiedenen Hypothesen ab, gemeinsam mit detaillierten Informationen über die genaue Art und Weise, wie sie die Datensätze Schritt für Schritt analysiert hatten, einschließlich der Zwischenergebnisse.
Die Ergebnisse der Analysegruppen variierten erheblich. Bei über der Hälfte der neun Hypothesen gab es erhebliche Meinungsverschiedenheiten: Zum Teil gelangten bis zu 40 Prozent der Teams zu einem abweichenden Resultat trotz zunächst ähnlicher Zwischenergebnisse: Spätere Analyseschritte führen jedoch zu unterschiedlicher Gewichtung. Da die Endresultate die Breite der Daten auf eine einfache Ja-Nein-Antwort reduzierten, führten selbst sehr ähnliche Zwischenergebnisse zu komplett anderen Endresultaten.
Ausgebremst

Interessant zum Beitragsthema: Blickwinkel auf Daten fand ich auch die Infografik: Ausgebremst im Spiegel dieser Woche, zum Berliner Verkehrsaufkommen im Zusammenhang mit Corona: Deutlich ist ersichtlich, dass selbst in Coronazeiten die Belastung an Samstagen und besonders an Sonntagen erkennbar noch unter der geringeren Belastung wochentags im Lockdown lag.
Der Fakt wird leider im Text nicht thematisiert. Also lassen wir hier mal die Gedanken spielen…
Wie viele Menschen müssen in der Großstadt leben und arbeiten?
Was treibt die Menschen während der Woche so viel mehr als an den Wochenenden in die Großstadt? Ist es die Arbeit? Dann kann man entweder auch weiterhin zumindest Bürojobs im Home Office erledigen, oder auch gleich die gesamte Arbeitsstätte und den Wohnort in den Speckgürtel nach Brandenburg verlegen. Das hilft der Wirtschaft und der Umwelt und bringt mehr als direkte oder indirekte Fahrverbote (Fahrradwege statt Fahrbahnen).
Wenn Corona eines gezeigt hat, dann, dass die krasse Änderung von Umweltbedingungen wie ein Shut Down mehr bewirken als einzelne Fahrverbote. Auch Autowerkstätten oder andere verarbeitende Betriebe müssen nicht im Stadtkern angesiedelt sein. Selbst Redaktionen kann man nach draußen verlegen. Ja, das geht, es ist nur vielleicht für manchen bisherigen Großstadtbewohner unbequem – solange er oder sie noch in der Innenstadt wohnt…
Umzug aufs Land
Oder ist es das Einkaufen in den schnuckeligen Boutiquen und die vielen netten kleinen Kneipen um die Ecke? Abgesehen davon, dass vermutlich viele kleinere Betriebe die Coronakrise nicht überleben werden – auch am Land, außerhalb vom Stadtkern könnte man bei genügender Besiedlung nette Kneipen eröffnen. Aber das wäre halt eine Umstellung der Lebensgewohnheiten des bequemen Großstadtbürgers, der dann seinen Wohn- und (=Arbeits)Ort und damit seinen Alltag gehörig umstellen müsste.
Arbeit und Wohnen raus aus der Großstadt
Vielleicht ist das Umdenken für die Zukunft größer notwendig, als es zurzeit in Talkrunden, von Politikern oder anderen getan wird. Vielleicht sollte man auch mal als Politiker oder Tonangeber die eigene Situation zur Disposition stellen und nicht nur die der anderen. Autofahrer aus der Innenstadt zu verdammen ist sicher ein schneller Beifallsgewinn. Was aber on the long run der Umwelt und uns allen helfen würde – da müssten bedeutend größere Denkmauern in Frage gestellt und bewegt werden.
…zum Abschluss noch ein Bonmot, ebenfalls aus dem Spiegel 26 vom 20.6.20

Liebe KollegInnen: Sechs Spiegelreadakteure für eine Seite Text mit Fehler, das sehe ich als Verschwendung meines Spiegel-Abo-Beitrages an. Gelobt Besserung!