BSF22-8 Augen zu und Hören

Einer der Tests beim Fliegerarzt jedes Jahr (oder jedes zweite, je nach Alter und Gesundheit) ist der Hörtest. Denn es macht Sinn, im Cockpit alle seine Sinne zu nutzen: Einen Schwelbrand riecht man bevor man ihn sieht; unübliche Geräusche, auch leise, sind meist Vorboten von schlimmeren Ereignissen. Während die meisten Menschen ihre Augen durchaus schützen, ist das bei den Ohren weniger der Fall. Laute Konzerte, Rasenmäher oder Kreissägen – all das schädigt unseren Gehörsinn.

Der vernachlässigte Sinn

Also befassen wir uns heute mit dem Hören, unserem vernachlässigten Sinn, und gucken nach, wie wir ihn hegen, pflegen und verbessern können.

„Close your eyes and listen“ ist eine der ersten Aufforderungen in einer interaktiven Lecture von Dr. James Andean von der De Montfort University. Andean ist als Komponist und Interpret in einer Reihe von Bereichen tätig, wobei sein Hauptinteresse der akusmatischen* Musik und der Improvisation gilt. Der amerikanische Klangkünstler ist leidenschaftlich davon überzeugt, dass die Rolle, die der Klang für unsere Wahrnehmung der Welt spielt, oft unerkannt bleibt. Seine Forschung konzentriert sich auf „sonic narratives“, also auf die einzigartige und unglaubliche Fähigkeit von Klang, Handlungen, Umgebungen und Bedeutungen in unserem Leben zu vermitteln – er versetzt uns in neue und erinnerte Welten und vermittelt uns ein Gefühl für die Welt um uns herum.

Es wird mucksmäuschenstill im großen Hörsaal. „Konzentriert euch darauf, was ihr hört“, fordert Andean trotzdem auf. Und später: „Was habt ihr gehört?“ Die Antworten nach der Minute Silence sind sehr unterschiedlich: vom eigene Bauchgrummeln bis zu den Lüftungsventilatoren, die zuvor keiner bewusst wahrgenommen hatte, das Atmen des Nachbarn…

Den Gehörsinn schärfen

Die Übung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Dinge, die man normalerweise nicht bewusst beachtet. Laut Andean eine gute Übung, die den Gehörsinn schärft – jederzeit, wenn man warten muss: auf den Bus, die Bahn oder beim Arzt oder bei einer Behörde…

Nun folgen etliche Klangbeispiele in unterschiedlicher Lautstärke und Rhythmus. Von totaler Stille über Piepgeräusche bis hin zu Musik. Am Schluss wird es zu (unangenehmem) Lärm. Jeder neue Reiz bekommt unsere Aufmerksamkeit und der vorangegangene (Lüfter) entschwindet unserer Aufmerksamkeit.

Wie wir Klänge erleben

Dass unsere Klangempfindung von seiner Umgebung abhängig ist, zeigt der Soundkünstler in den folgenden Beispielen. Die Erzählung, das Rundum, ist es, das im Gehirn die Entscheidung bewirkt, ob wir weglaufen sollen, das Geschrei des Nachwuchses geduldig aushalten oder uns auf etwas Spannendes freuen.

Umgekehrt gilt natürlich auch, dass das Geräusch unsere anderen Sinne beeinflusst. Die gleiche Szene ohne Ton kann komisch oder furchteinflössend mit der jeweiligen Musik oder den herannahenden Schritten wirken. Hitchcock’s Filme wären nur halb so gruselig (selbst beim 10. Mal ansehen) ohne Ton. Und wenn der Pate auf einmal mit Micky Maus Stimme sprechen würde, reizte das wohl eher zum Lachen.

Welche Informationen erhalten wir durch Klang?

Wichtig ist der Ursprung: Was ist die Quelle, die den Ton erzeugt, und woher kommt sie? Das ist notwendig für unsere Navigation; damit wir uns zurechtzufinden. 🙂 Ist der Tiger noch weit entfernt oder wartet er hinter dem nächsten Baum? Ist das Einsatzfahrzeug auf unserer Strecke oder einige Straßen entfernt?

We are perfectly able to use all the same information as the sightless, but we are not aware of it*

James Andean

Klänge liefern uns Informationen über den Weg, den der Klang genommen hat. Ein Hund kommt in den Raum. Tapst er oder rennt er, trippelt er, hinkt er verletzt oder freut er sich, uns zu sehen?
Groß, klein, Ort, Bewegung, Richtung – all das vermag uns unser Gehör allein zu vermitteln, auch bei geschlossenen Augen. Es war einmal die wesentliche Fähigkeit, um am Leben zu bleiben.

Dass auch die Gegenstände im Raum den Klang von Geräuschen verändern können, ist uns normalerweise nicht bewusst. Extrem gilt das für Tonaufnahmen im Studio, die bei nackten Wänden grauslich klingen. Gut gepolsterte Wände kommen für den Zuhörer besser.

Tische rücken

Blinde hören es, wenn etwa ein Tisch an einem neuen Platz steht oder durch ein anderes Objekt ersetzt wird. *Sie haben üblicherweise generell kein besseres Gehör als andere Menschen, aber ein besser geschultes. Das heißt, wir alle können lernen, etwas genauer hinzuhören…

Der Schall trifft auf alles, was sich im Raum befindet, prallt ab und wird verändert. Das hinterlässt eine Spur auf dem Klang.

James Andean

Sommer und Winter

Der Klang, jedes Geräusch verändert sich auch mit der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit. Auf all das reagieren wir jede Minute, jeden Tag, zum Teil unbewusst, zum Teil bewusst. Nur ein sehr begrenzter Teil dessen, was wir wahrnehmen, ist uns bewusst. Würden wir den eigenen Herzschlag oder Atem jederzeit bewusst wahrnehmen, hören, hätten wir keine Kapazität mehr für irgendetwas anderes.

Die Erkenntnis „Hund“ passiert schnell, der Rest ist unbewusst. Das Gehör erfasst wesentlich mehr als der Sehsinn.


Was sehen wir nicht?

Ich kann nicht hinter mich sehen.

Das Sehen bietet uns nur einen Teil der Information, ein Panorama.

Das Gehör bietet uns das ganze Paket.

Wie konstruieren wir unsere Vorstellung von der Welt, in der wir leben?

Ich muss wissen, wo ich bin und wie ich zu meiner Umgebung stehe.

Ich sehe MICH nicht und ich bin nicht Teil der Welt, die ich sehe.

Das Gehör gibt uns die information über den Teil der Welt um uns herum.


Sound CONSTRUCTS our environment

Der Klang definiert unsere Umwelt

but sound also

aber

PLACES US WITHIN

platziert uns auch als Teil

that environment.

dieser Umgebung

Unser digitales Leben

Moderne Städte sind sehr laut und aufdringlich. Sie überdecken die Fähigkeit, uns in unserer Umgebung zu verorten. Wir leben (beim Handy Tippen) abgeschnitten von den Informationen über unsere Umwelt, dadurch abgeschnitten von der Umwelt selbst.

Das moderne digitale Leben braucht keinen realen Hund, wir können ihn im Radio oder Fernsehen „erfinden“. Wir können Geräusche aufnehmen, sie aufzeichnen und abspielen, wann immer wir wollen.
Wir können alle unsere Klänge nutzen und wir tun es und erschaffen so Orte und Räume.

Interpretieren versus Erfahren

Mimesis versus Diegesis

Bei diegetischem Erzählen haben wir das Gefühl, distanziert zu sein, als würde man uns über Ereignisse belehren, die bereits stattgefunden haben.

Im Gegensatz dazu „zeigt“ das mimetische Erzählen die Geschichte, indem es die Welt so darstellt, wie das Auge sie sieht. Es lässt den Leser in die Handlung der Geschichte eintauchen.

Show don’t tell heißt das im schriftstellerischen oder profan: Selbst erleben lassen statt erzählen wie es ist. Klar, dass Andean das natürlich in der Praxis vorführt:

Was bewirkt mehr:

Die Aussage: Es regnet draußen

oder

das auditive Prasseln des Regens gegen ein Fenster?

Es ist der Unterschied zwischen Interpretation und Erfahrung.

Auch wenn man es auf dem Bild nicht sieht: Der große Hörsaal war gepackt voll mit Besuchern. Einen der Lüfter sieht man ganz links oben im Bild. 🙂 Aber erst, wenn man zuvor mucksmäuschenstill zugehört hat.

Welche Aussage bewirkt mehr in uns?

Klar, da gab es Bei Andean nicht nur das Bild auf der Leinwand, sondern vor allem akustisches Meeresrauschen. Hin und weg…

Ein Mensch geht ans Meeresufer
Du betrittst das Meeresufer
Ich gehe ans Meer (Subjektposition des Hörers)

Wer ist die Hauptperson? Ich tue dies oder der Autor macht dies mit mir ist heftiger als nur das Zuhören, was andere tun.

Klänge schaffen ein sehr persönliches Erlebnis.

James Andean

Und dann gibt er uns noch als Übung mit auf den Weg – für den Rest des Lebens 😉

Konzentrieren Sie sich auf Ihr Zuhören und auf Ihre Umgebung!
Was hören Sie?
Üben mit geschlossenen Augen und ohne Geräusche
Beobachten Sie ihre Umgebung mit geschlossenen Augen.


* Akusmatik (griechisch Akousma = auditive Wahrnehmung) bezeichnet eine Musik, deren Klangerzeugungsmittel nicht sichtbar und meist auch nicht identifizierbar sind. Es entsteht eine Situation reinen Hörens, da die Aufmerksamkeit nicht durch eine sichtbare oder vorhersehbare Klangquelle beeinflusst wird. [Wikipedia]


Link zur Übersicht von allen Beiträgen des British Science Festivals 2022

Über die Autorin

Die Journalistin Helga Kleisny ist diplomierte Physikerin (TU Wien), Fallschirmspringerin und Pilotin. Nach Arbeitsorten weltweit (Wien, Taipeh, Boca Raton (FL), München, Frankfurt…) sind ihre Haupt-Lebens- und Arbeitsorte nun in Deutschland und in den USA. Sie schreibt als freie Luft- und Raumfahrtjournalistin. Ihre Begeisterung für alles Technische und die Natur, am besten in Kombination, zeigt sich in ihren Büchern und in Seminaren und Vorträgen.

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