
Das Buch wollte ich unbedingt lesen. Geht es doch um eine Liegestudie im Envihab. Envihab ist ein für seine Architektur prämiertes Gebäude auf dem Gelände des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln (DLR).
Hier drin stehen eine Kurzarmzentrifuge, etliche Zimmerchen und Labore, eine Wiegekammer und ein Duschraum; eine MRT-Station und ein Aufenthaltsraum, in dem mehrere Betten für Studien-Teilnehmer Platz haben.
(c) Buchcover (das leider die 6° Kopf nach unten Lage nicht darstellt): Rowohlt
Und in all dem wird in länger andauernden Studien simuliert, wie sich 12 Probanden verhalten, wenn sie 60 Tage Kopfunter auf ein Bett gefesselt sind. Nicht physisch natürlich, aber mit der Bedingung, weder Kopf noch Schulter während der 2 Monate zu heben.
Stress pur
Das ist hart. Alles: Essen, Ausscheidung, alle Untersuchungen, Schlaf- und Wachphasen – muss in der 6 Grad Kopf nach unten Lage im Bett absolviert werden. Damit sollten die Auswirkungen langer Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper simuliert werden. Die Muskeln verschwinden (ziemlich bald), die Knochendichte sinkt, das Gesicht wird schwammig (Puffy Face), der Augendruck erhöht sich – und das sind nur einige der körperlichen Merkmale. Was sich im Geist, im Gehirn, im Denken der eingesperrten Probanden abspielt, kommt noch oben drauf. Zwei Monate kein Blick nach draußen, dafür nur eine begrenzte Anzahl von Menschen, mit denen man Kontakt hat und die man sich nicht aussuchen kann.
EnviHab-Planung in 2004
Habe extra nachgeschaut: Schon 2004 hatte ich vom damals geplanten EnviHab in der Techology Review (Schwerpunkt: Raumfahrt) berichtet. Und in Folge dann mit anderen für die Organisatoren Dr. Petra Rettberg und Dr. Elke Rabbow eine kleine Ausarbeitung als Vorlage fürs Ministerium verfasst, damit EnviHab realisiert wird.
Die drei ersten Bildchen stammen aus einer damaligen PPT-Präsentation der beiden Wissenschaftlerinnen, das letzte ist die Realisation wie es nach dem tatsächlichen Bau nun heute aussieht: (c) DLR.
Seit 2013 ist Envihab nun realisiert und es gab bereits einige Bettreststudien vor derjenigen, die im Buch beschrieben ist. Die erste Studie im Envihab fand 2015 statt. Mittlerweile führt das DLR die Studien für Langzeitmissionen für die NASA und ESA durch.
Der menschliche Körper ist eine auf Effizienz getrimmte Maschine. Er baut ab, was er nicht braucht. Das führt bei längeren Aufenthalten im Weltraum zu Problemen. Seit Beginn der astronautischen Raumfahrt wird daher an Gegenmaßnahmen geforscht. Mit Bettruhestudien können wir die degenerativen Prozesse im Körper in Schwerelosigkeit simulieren. Und das unter standardisierten Bedingungen auf der Erde. Die Veränderungen sind bei den Studienteilnehmenden ähnlich wie bei Astronautinnen und Astronauten im All.
Dr. Edwin Mulder im DLR-Magazin
Das Bild stammt aus einer früheren Studie des DLR. Die schwierige Nahrungsaufnahme mit Kopf am Kissen und 6° Schieflage nach unten aber bleibt.
(c) DLR
Probanden werden isoliert, immobilisiert und gezielt Stresssituationen ausgesetzt.

Autor Dennis Freischlad beschreibt aus seiner sehr persönlichen Sicht, wie sich die drei Monate in der Isolation – 2 Wochen vor der Bettruhe und 2 Wochen danach – anfühlen und was er dabei erlebt hat. Und ganz ehrlich, wer (wie ich) durchaus mal mit dem Gedanken gespielt hat, teilzunehmen – sollte das Buch dringend vorher lesen. Das erspart einem so einiges. Abgesehen vom Liegen kommt ein anspruchsvolles Programm dazu: Tägliche Blutabnahme führt zu Venen wie ein Junkie, regelmäßiges MRT, wobei unterschiedliche Aufgaben gelöst werden müssen; für einige der Probanden (Referenzgruppe) die tägliche Zentrifuge und andere Computeraufgaben, die absolviert werden müssen – das liest sich alles leichter in aufrechter Lage als es selbst zu erleben.
Auch das ist nicht der Autor, sondern ein Teilnehmer in einer früheren Studie bei einer Augeninnendruckmessung. Man stellte fest, dass die künstliche Nachahmung der Schwerelosigkeit, genauso wie die echte, arg auf die Augen geht und versucht nun in weiteren Studien, Methoden zur Abhilfe zu finden.
(c) DLR

Dennis Freischlad hatte es durchs Füße-Hochliegen auch bei den Augen erwischt. Er bekam Augentropfen und wurde regelmäßig auf den Zustand seiner Augen untersucht. Zusätzlich zu allen anderen Untersuchungen wie MRT und Tests denen die Studienteilnehmer täglich ausgesetzt waren. Meine naiven Vorstellungen von: Da hat man endlich Zeit zum Lesen, zum Abschalten und Nachdenken ohne Störungen von außen – gehören nach Freischlads Schilderungen der Vergangenheit an. Die Idee hinter den Studien ist ja genau, dass die Probanden Stress ausgesetzt sind, neben allen körperlichen Einschränkungen einer langen Marsreise, die man so gut es geht, eben simuliert.
Freischlad schildert genau, manchmal so sehr in Sprache und Inhalt ins Detail gehend, dass man als Leser denkt: So genau wollte ich es nun auch wieder nicht wissen. Manches nervt auch einfach, weil es einem die Persönlichkeit des Autors auf 347 Seiten regelrecht aufdrückt. Ob er sich für eine tatsächliche Marsreise qualifizieren würde, bezweifle ich. Denn da ist neben Führungsstärke vor allem auch Teamgeist gefordert.
Der fehlt, wenn er beispielsweise stolz erzählt, wie er alleine den Duschraum lange und ausgiebig ausnützte – hier werden die Probanden umgebettet – sie rutschen rüber in die Wanne. Das „Duschen“ in der Liegewanne mit natürlich ebenfalls 6° Neigung ist ähnlich aufwändig wie die Nahrungsaufnahme. Es waren 12 Teilnehmer und ein Duschraum…
Wo bleiben die anderen 11?
An der Studie nahmen 8 Männer und 4 Frauen teil. Der Autor freundet sich nur mit einem andern wirklich an, er nannte ihn Dhia-K, die meisten anderen Teilnehmer zählt er praktisch nur auf den ersten Seiten auf, detailliert mit den Dingen, die alle nachher mit dem Geld anstellen wollen, obwohl ja natürlich keiner des Geldes wegen an der Studie teilnimmt…
Menschen, Studenten, die für seine und die Betreuung der anderen sorgten, waren für ihn nur „die Blauen“, weil sie blaue Schutzkleidung trugen. Ausnahme bleiben eine Betreuerin, Klara, die der Autor erfolgreich anschmachtet und Bernd, der DLR-Weltraumpsychologe Dr. Bernd Johannes, der ihn fordert, aber auch nach allen Kräften mental unterstützt.
Einerseits geben die allzu persönlichen Einblicke ein gutes Bild, wie sich jemand fühlt, was mit ihm geschieht, während der 90 Tage Isolation. – Was ein witziger Begriff ist, bei all den Helfern, die die Teilnehmer umschwirren, und sie von einem Termin zum nächsten auf ihren Betten schieben. Nur klingeln und schon kommt ein freundliches Wesen angerannt und umsorgt den Probanden. Tag und Nacht.
Das ist wenig realitätsnahe für eine Langzeitmission, bei der maximal 6 Personen, vermutlich weniger, auf Gedeih und Verderb zusammengeschweisst, alle Herausforderungen alleine bewältigen müssen. Und da kommen noch Gefahren wie Strahlung, Antriebsprobleme, Zusammenstösse oder lebensbedrohliche Einschläge mit Teilchen und vieles mehr an Unerwartetem auf sie zu – telefonieren hilft da wenig.
Aber das wäre die Realität. Die Studie ist ja auch „nur“ dazu da, körperliche Effekte durch Schwerelosigkeit zu simulieren, sie aufzudecken und wirksame Gegenmaßnahmen zu finden. Das ist schon eine ganze Menge.
Mich hätten die Interaktionen der anderen Teilnehmern interessiert. Wie empfanden es die vier Frauen? Dafür wird der krude Austausch mit seinem Kumpel Dhia-K als Aufhellung lang und breit erwähnt. Ja, und ziemlich viele, teils lange und ausführliche Zitate aus anderen Büchern finden sich ebenfalls. Gut, dass das keine Dissertation ist. Leider aber meist nur Allgemeinwissen, alltägliches zur Raumfahrt, was ein halbwegs informierter Mensch auch aus der Tagespresse weiß.
Die eigene Größe und die der anderen
Bei manchen Aussagen würde man sich als Leser wünschen, dass der Autor sie reflektiert hätte. Auf vielen Seiten beschreibt er stolz seine Interaktion mit den beiden Andocksimulatoren: einen für die ISS und am Schluss des Buches und der Studie für die MIR. Letztere Simulation kenne ich nicht, aber Freischlad schreibt, dass er nach 5 Versuchen bei 99% blieb, und im Nebensatz, dass Kandidatin Daniela und ein anderer Teilnehmer namens Salomon das Andocken an der MIR zu 100 Prozent schafften. Leider führt er das nicht weiter aus. Das wäre so einer der vielen Fälle, in denen mich die Erfahrung von anderen Teilnehmern, hier Daniela, mehr und näher interessiert hätte, als Freischlads Eigenlob.
Anderes Beispiel: Ein Stephen Hawking lamentiert(e) – nicht! Wer sich näher mit diesem herausragenden Menschen unserer Zeit befasst – oder ihn sogar persönlich gekannt hat – weiß, dass dieses Genie vieles für die Menschheit getan und gedacht hat. Jammern über irgendetwas war trotz aller physischen Probleme, mit denen er täglich fertig werden musste, nicht seine Art.
Noch 27.540.912 Kilometer bis zum Mars
Wenn der Autor bei jedem Kapitelanfang zum gezählten Tag (etwa „34. Liegetag“) auch die Entfernung zum Mars angibt („noch 27.540.912 Kilometer bis zum Mars.“) kommt das ungefähr so an, wie wenn ein Fußgänger am Flugplatz alle Dirt Dives* am Boden an einem Sprungtag nachmacht und dann am Abend mit stolz geschwellter Brust erzählt, er habe 5 Sprünge gemacht.
Sofort weiß ich, dass nicht das Zentrifugensilo, sondern diese Kammer [Duschzimmer] das eigentliche Zentrum und Herzstück unseres Raumschiffes ist…
aus: 60 Tage liegen, vom 11. Tag der Studie, bei einer Erstansicht der Duschkammer, noch vor den Bettliegemonaten.
Was für andere, echte Astronauten, selbstverständliches Beiwerk ist, wälzt der Autor auf mehr als 30 Buchseiten aus: die körperlichen Herausforderungen nach einem (simulierten) Aufenthalt in Schwerelosigkeit. Auch Menschen, die etwa mehrwöchige Zwangsliegeaufenthalte in einem Krankenbett absolvieren müssen (Beckenbruch) haben ähnliche Herausforderungen, wenn sie anfangen dürfen/können, das Bett zu verlassen. Bisher habe ich noch keine Aufzeichnung anderer dazu gelesen.
Warum es das Buch trotz aller Kritikpunkte in die Empfehlungen schaffte:
Es gibt einen ungeschminkten und sehr detaillierten Eindruck, was ein Mann erlebt hat, der an einer Bettrest-Studie teilnahm. Wie sie abläuft, was tatsächlich mit den Teilnehmern geschieht.
Wer sich also dafür interessiert, dem öffnet es die Augen.
Im Buch sind leider keine Bilder von der Station (bis auf eine Skizze) enthalten. Zur Visualisierung helfen die Bilder oben aber und darum habe ich sie hier mit freundlicher Genehmigung des DLR ergänzt. Auch wenn sie aus einer anderen, früheren Studie stammen.
* Fallschirmspringer üben am Boden (und auch im Flugzeug im Gedanken) die Figurenabfolge, die sie in der kurzen Zeit – weniger als einer Minute – in der Luft gemeinsam oder alleine absolvieren wollen. Am Boden nennt sich das passenderweise Dirt Dive.