BSF22-13 Der Neuronencomputer

Die Faszination an der Funktionsweise des menschlichen Gehirns und der Versuch seiner Nachahmung ist nicht neu. Die Kybernetik brachte Mitte des letzen Jahrhunderts erste Ansätze, die Funktionsweise technisch nachzubilden und zu nutzen.

(c) alle Folien: Stephen Lynch

Die beiden Nobelpreisträger Alan Lloyd Hodgkin und Andrew Huxley entwickelten bereits 1952 ein mathematisches Modell, das zeigt, wie Anregungspotentiale in Neuronen entstehen und sich fortpflanzen.

Dr. Stephen Lynch von der Manchester Metropolitan University will die Biologie nicht simulieren sondern bionisch umsetzen. Der menschliche Körper besteht größtenteils aus oszillierenden Zellen wie Neuronen, Herzzellen, Muskelzellen und Zellen der Netzhaut. Das menschliche Herz schlägt (oszilliert) mit einer Geschwindigkeit von 60-80 Schlägen pro Minute, und Neuronen sind natürliche Schwellen-Oszillatoren, die noch 1000-mal schneller schlagen.

Das durchschnittliche menschliche Gehirn besteht aus etwa 100 Milliarden Neuronen mit bis zu 100 Billionen synaptischer Verbindungen. Die Leistung des Gehirns beruht auf der hohen Konnektivität und genau das versucht man bei bioinspirierten Computern zu nutzen.

Nun wird es mal wieder Zeit für eine echte Neuerung. So etwas Bahnbrechendes wie das Internet oder das Mobiltelefon. Steve Jobs lebt leider nicht mehr, nun müssen andere ran. Auch Richard Feynman ist schon lange nicht mehr unter uns. Der Quantencomputer, der das Potential dazu hätte, steckt seit Jahrzehnten in den Kinderschuhen. Obwohl die Forschung immer wieder zaghafte Minischritte in die richtige Richtung vermeldet – die praktische Umsetzung ist noch weit entfernt.

Biologische Neuronen-Schaltkreise als Computer

Softwaremäßig gab es schon zahlreiche Forschung mit Programmen, die simulieren, wie die Übertragung von Neuron zu Neuron funktioniert. Hardwaremäßig sind bei konventionellen Computern noch immer die Verarbeitung (Prozessor) von der Speichereinheit (Memory) getrennt. Das schafft Grenzen bei der Verarbeitung und Speicherkapazität und hat einen enormen Energieverbrauch obendrein.

Biologische Neuronen-Schaltkreise. (c) alle Bilder: Stephen Lynch

Neuronen kommunizieren miteinander über synaptische Verbindungen und Neurotransmitter, die elektrische Signale in chemische Signale und wieder zurück in elektrische Signale umwandeln. Diese Neurotransmitter können erregend sein – das Neuron kann ein verbindendes Neuron anschalten (es zum Schwingen bringen), oder hemmend – das Neuron kann ein verbindendes Neuron hemmen oder daran hindern, zu schwingen.

Also sollte ein neuroneninspirierter Computer auch oszillieren. Lynch greift bei seiner Entwicklung unter anderem auf die Forschung von Brian D. Josephson zurück:

Der Josephson-Effekt beschreibt den Tunnelstrom zwischen zwei Supraleitern. (JJ = Josephon Junctions). Der Effekt wurde von Brian Josephson 1962 theoretisch vorhergesagt und später in zahlreichen Experimenten verifiziert, zuerst 1962 von John Rowell an den Bell Laboratories. 

Die Umsetzung als Computer

Im Sinne der Erfindung ist eine Schwingung gleichbedeutend mit einer 1 im Binärsystem und keine Schwingung entspricht einer Null. Die Idee besteht darin, Standardberechnungen (Addieren, Subtrahieren…) mit Schaltkreisen mit neuronaler Dynamik durchzuführen.

Die Dynamik des Gehirns soll dabei erreicht werden mit Schwellenwert-Oszillatoren, die binäre Berechnungen UND das Speichern durchführen. 

Widerstand mit Speicher kombiniert

Lange glaubte man, dass es nur drei grundlegende passive Schaltungselemente gibt: den Kondensator, die Induktivität und den Widerstand. Im Jahr 1971 wies der Berkeley Professor Leon Chua mathematisch die (theoretische) Existenz eines vierten grundlegenden nichtlinearen Elements nach, das wie ein Widerstand mit Speicher wirkt, und nannte es Memristor.

Im Jahr 2008 gaben die Hewlett Packard Laboratories bekannt, dass sie einen Memristor aus Titandioxid gebaut hatten. Derzeit entwickeln sie Geräte für Computerlogik, nanoelektronische Speicher und neuro-morphische Computerarchitekturen.

Lynch glaubt, dass künftige Computer aus stark vernetzten Josephson Junctions (JJ) bestehen könnten, wobei Memristoren wie Axone* wirken.

Schema eines binären Oszillator-Halbaddierers, des Hauptbestandteils aller Computer.

Die Oszillatoren O1 und O2 sind Schwellenoszillatoren. Die grünen Pfeile stellen erregende Verbindungen dar, der rote Pfeil eine hemmende Verbindung.

Die in Abbildung 1 dargestellten Oszillatoren könnten aus biologischen Neuronen, unterkühlten Josephson-Übergängen (JJs), Memristoren, Transistoren oder optischen Komponenten bestehen.

JJs sind natürliche Schwellenoszillatoren, die bis zu 100 Millionen Mal schneller schwingen als Neuronen. Sie sind unterkühlt, arbeiten bei 4 Kelvin (-269,15◦C) und benötigen nur sehr wenig Strom für ihren Betrieb.

2010 veröffentlichten Wissenschaftler der Colgate University, Hamilton eine Arbeit, in der JJs zur Simulation von Neuronen verwendet wurden. Gemeinsam mit HYPRES (einem Unternehmen für digitale Superkonduktoren) hoffen sie, Teile des Gehirns mit physikalischen JJ-Schaltkreisen zu simulieren – sie behaupten, dass sie mit ihren Schaltkreisen in der Lage sein werden, die Entwicklung des menschlichen Gehirns über Jahrzehnte hinweg in wenigen Minuten zu simulieren.

2014 stellten IBM-Forscher den TrueNorth-Chip mit 5,4 Milliarden Transistoren vor, der aus 4096 neurosynaptischen Kernen besteht, die über ein chipinternes Netzwerk miteinander verbunden sind. Jedes Neuron ist mit 256 anderen Neuronen verbunden und weist eine sehr hohe Konnektivität auf – genau das, was erforderlich ist, wenn binäre Oszillatorberechnungen jemals erfolgreich sein sollen.

Energie sparen und Leistung gewinnen

Lynch und sein Team verfolgen derzeit zwei Forschungsrichtungen: erstens die Herstellung von supergekühlten, superschnellen Computern mit geringem Energieverbrauch unter Verwendung von JJs und zweitens die Entwicklung von neuronalen Tests, um Medikamente auf neuronale Fehlfunktionen zu prüfen.

Für Letzteres arbeiten die Wissenschaftler mit Zellbiologen der Manchester Metropolitan University und der University of Reading zusammen, um neuartige neuronale Schaltkreise zu entwickeln, die wie ein einfacher biologischer Rechner funktionieren. Mit Hilfe dieser Schaltungen können Nervenzellen, die von neurologischen Störungen betroffen sind, auf funktionierenden biologischen Logik- und Gedächtnisschaltungen getestet werden, die konsistente und wiederholbare Ergebnisse liefern. Die Tests können auch mit anderen oszillierenden Zellen des menschlichen/tierischen Körpers durchgeführt werden.


* Als Axon wird der Fortsatz einer Nervenzelle (Neuron) bezeichnet, der elektrische Nervenimpulse vom Zellkörper zum nächsten Neuron leitet.


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