Wie viel Gewicht ist zu viel?

Wenn man etwas vernachlässigt, sollte man wissen, welche Wirkung das hat. Wenn es wenig Unterschied im sonntäglichen Kuchen macht, ob man statt 500 g nun 503 g Mehl dafür abwiegt, so kann es durchaus ein anderes Ergebnis bringen, ob man statt 4 Eiern nur 3 nimmt. Für das gewünschte Resultat sollte man eben wissen, was geht – und was nicht.

Das trifft in der Technik und im speziellen in der Luftfahrt umso mehr zu. Hier geht es nicht um einen verpatzten Kuchen, sondern gegebenenfalls um Menschenleben. Das Leben der Passagiere und der Crew.

Im vorliegenden Fall wurden 38 weibliche erwachsene Passagiere aufgrund eines Fehlers im Buchungssystem der Airline als Kinder (Minors) eingecheckt. Als Folge daraus wurde für die Gewichtsberechnung des Flugzeugs anstatt des Standardgewichts für diese Frauen das Standardgewicht für Kinder herangezogen (35 kg anstatt 69 kg). Als rechnerischer Fehler ergibt sich dadurch ein um 1292 Kilogramm (38 x 34 kg) zu geringes Gewicht der Beladung. (Der Untersuchungsbericht spricht von 1244 kg; warum auch immer.)

Covid-19 ist schuld. Klar. Wie immer. Die Airline hatte aufgrund der Pandemie den Flugbetrieb für einige Monate eingestellt; die Zeit aber genutzt, um ihr Buchungssystem zu modernisieren. Wie das so ist im täglichen Leben in der Technik, nichts geht ohne Fehler. Der war in diesem Fall allerdings folgenreich. Nach dem Software Update wurden alle Passagiere mit der Bezeichnung „Miss“ als Kinder eingestuft. (Das leidige Fräulein gibt es im Deutschen glücklicherweise schon lange nicht mehr…)

Der Link zum Original AAIB (Air Accidents Investigation Branch) Bulletin der britischen Untersuchungsbehörde zu dem als Serious Incident eingestuften Vorfall. Der einen Flugundzeit-Leser dazu veranlasste, sich darüber Gedanken zu machen.*

Ist das falsche Gewicht nun eine Gefahr für die sichere Durchführung des Fluges?

Die kurze Antwort: Nein!

Ein verfolgungswürdiger Vorfall ist es dennoch, da die Anzahl der Passagiere und die Aufteilung in die vier möglichen Untergruppen: Männer, Frauen, Kinder und Säuglinge – natürlich korrekt sein muss, damit im Falle eines Unfalls die Retter genau wissen, nach wie vielen Personen im einzelnen gesucht werden muss.

Aber zurück zur Frage der Sicherheit.

Im Bericht sehen wir, dass das so genannte Load sheet (der Beladeplan) aufs Kilo genaue Werte aufweist. Das suggeriert eine hohe Genauigkeit, die aber in keiner Weise gegeben ist (und auch nicht sein muss; dazu später mehr).

Denn die Gewichte der Passagiere sind nicht etwa die gemessenen (gewogenen) Gewichte der tatsächlichen Passagiere – oder sind Sie schon mal gewogen worden, bevor Sie ein Passagierflugzeug betreten haben? –, sondern theoretische Standardwerte.

Die Standardwerte für die Berechnung können von Airline zu Airline und auch innerhalb der Airline nach Verkehrsgebiet unterschiedlich sein. Sie werden immer mal wieder, alle paar Jahre, angepasst.

In dem hier vorliegenden Fall betrugen die Standardwerte: Männer 83 kg, Frauen 69 kg, Kinder 35 kg, Säuglinge 0 kg. (Als Mann durfte man also bedenkenlos 14 kg mehr wiegen als die eigene Partnerin; auch wenn man einen Kopf kleiner ist.) Alle Gewichtswerte verstehen sich inklusive des mit an Bord gebrachten Handgepäcks!

Die in unserem Fall an Bord befindlichen Säuglinge (Infants), fünf an der Zahl, wogen also rechnerisch samt aller Utensilien, die die Väter und Mütter für den Nachwuchs dabei hatten, 0 in Worten NULL, Kilogramm.

Für die 27 tatsächlich an Bord befindlichen Kinder (65 minus der 38 Frauen, die rechnerisch zu Kindern mutierten) wurde mit je 35 kg gerechnet. Egal, ob sie zweieinhalb oder 17,5 Jahre alt waren.

Vor der Softwareänderung, die zu dem Schlamassel führte, zählten die Mädchen zu den Frauen und die Jungs zu den Männern. Es gab keine Kategorie Kinder.

Mit anderen Worten: Selbst wenn man die Passagiere in die passende Kategorie einsortiert und mit dem jeweiligen Standardgewicht multipliziert, erhält man irgendwas. Jedoch bestimmt nicht aufs Kilo genau das tatsächliche Gewicht der Passagiere inklusive ihres Handgepäcks.

Wenn wir einfach mal die gleichen 187 Passagiere nehmen und sie im Hochsommer mit Flip Flops und kurzer Hose einsteigen lassen und das dann mit einem Flug im Winter bei minus 10 Grad an Abflug- und Zielort – und der entsprechenden Garderobe – vergleichen, dann sehen wir auf dem Load sheet immer die gleiche Zahl. Eventuell liegen die wahren Werte aber um 600 bis 900 kg auseinander.

Und genau, weil dem so ist, sind bei der Gewichtsberechnung natürlich Puffer eingebaut, damit eine Berechnung mit geschätzten Gewichten nicht zu Problemen führt.

1292 kg sieht nach viel aus, doch bei einem Startgewicht von 65 Tonnen sind das lediglich 2 Prozent.

Da die Geschwindigkeit eines Flugzeugs quadratisch in den Auftrieb eingeht kann ein Gewichtszuwachs von 2 Prozent mit einem Zuwachs von nur einem Prozent an Geschwindigkeit ausgeglichen werden.

Im vorliegenden Fall verändern sich alle Geschwindigkeiten um gerundet 1 Knoten (real etwa 1,2 Knoten). Das liegt im Bereich der Ablesegenauigkeit und innerhalb der Fehlertoleranz der Fahrtenmesser. Es ist also fliegerisch komplett bedeutungslos.

Für die Berechnung des nötigen Startschubs und der Länge des Startlaufs kann man grob von einem Puffer von 5 Prozent ausgehen, da Variationen der tatsächlichen Triebwerksleistung, des Luft- und Rollwiderstands des Flugzeugs und eben des Gewichts eingepreist sind.

Mit anderen Worten: bis zu 3 Tonnen Ablage zwischen gerechnetem und tatsächlichem Gewichtswert kommt es zu keinen Problemen.

Im vorliegenden Fall wurde der Startschub aufgrund des vorhandenen Leistungsüberschusses sogar verringert.

Nicht mit der maximalen Triebwerksleistung zu starten, ist ein übliches Verfahren. Denn, wenn man (wegen ausreichender Startbahnlänge, kühler Außentemperatur) den vollen Schub der Triebwerke fürs Abhebend es Flugzeugs nicht benötigt, bringt eine Verringerung folgende Vorteile:

1 Die Triebwerke werden geschont. Das spart Wartungskosten und verringert die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt ein Triebwerk beim Start ausfällt und der Start abgebrochen oder mit dem verbliebenen Triebwerk alleine weiter durchgeführt werden muss. Wenn alle Triebwerke laufen, dann ist jeder Start mit einem mehrmotorigen Flugzeug vollkommen problemlos.

2 Es ist leiser in der Umgebung des Flugplatzes

Die Triebwerksleistung wird dabei aber nicht so extrem reduziert, dass der Start gerade eben noch möglich ist, sondern nur etwa um die Hälfte der maximal möglichen Verringerung.

Wie berechnet man die Startstrecke (Take Off Performance)?

Die Startstrecke für ein bestimmtes Gewicht hängt ab von der Außentemperatur (Luftdichte). Die wiederum beeinflusst sehr stark die Triebwerksleistung und die Aerodynamik des Flugzeugs, also, wann es abhebt. Je dünner die Luft ist (höhere Temperatur), umso größer muss die Geschwindigkeit zum Abheben sein.

Bei der Take Off Datenberechnung wird eine fiktive Außentemperatur errechnet bis zu der der T/O (das Abheben) möglich wäre. Diese Temperatur ergibt den verringerten Schub der Triebwerke für den T/O während die Aerodynamik und damit die Abhebegeschwindigkeit in der realen Außentemperatur stattfindet.

Die aerodynamische Performance des Flugzeugs ist also stets besser als die berechnete Vorgabe.
Also haben wir trotz der Schubreduzierung einen ausreichenden Sicherheitspuffer in unserer Berechnung.

Der Incident, das ganze Ereignis, war also für die sichere Flugdurchführung unkritisch.

Beispiel aus der Allgemeinen Luftfahrt

Wer schon einmal die Gewichtsberechnung für eine Cessna 172 (Maximales Gewicht je nach Modell zwischen 1050 und 1200 kg) durchgeführt hat, weiß, wie schwierig es ist, das Gewicht der vier Passagiere aufs Kilo genau zu erfahren. Denn weder der Freund, die Freundin, Schwiegermama oder Schwiegerpapa werden mit den richtigen Zahlen rausrücken.

Vergleichen wir den hier beschriebenen Fall (Fehler im Gewicht von rund 2 Prozent des Gesamtgewichts), dann müssten wir für unsere Cessna das Gesamtgewicht der Passagiere auf 20 kg genau bestimmen. Also jeden einzelnen auf 5 kg genau. Mit Handtasche, Fotoausrüstung, Winterjacke oder dem Badezeugs.

Und: Jede(r), der eine C172 pilotiert hat, weiß, dass man die 20 kg NICHT merkt beim Fliegen.


*Der Beitrag entstand aufgrund einer Anregung und Fragestellung von Dr. Carsten Aulbert. Und er wurde erfreulicherweise einige Stunden nach dieser Veröffentlichung vom Spiegel als Thema aufgegriffen und verarbeitet.

Über die Autorin

Die Journalistin Helga Kleisny ist diplomierte Physikerin (TU Wien), Fallschirmspringerin und Pilotin. Nach Arbeitsorten weltweit (Wien, Taipeh, Boca Raton (FL), München, Frankfurt…) sind ihre Haupt-Lebens- und Arbeitsorte nun in Deutschland und in den USA. Sie schreibt als freie Luft- und Raumfahrtjournalistin. Ihre Begeisterung für alles Technische und die Natur, am besten in Kombination, zeigt sich in ihren Büchern und in Seminaren und Vorträgen.

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