Der gesunde Menschenverstand

Vor etlichen Jahren entdeckte ich an einem meiner Stöbernachmittage bei Barnes&Noble ein Buch mit dem Titel: „How to Get Common Sense“. Was in etwa heißt: Wie man den gesunden Menschenverstand lernt.

Die durchaus ernst gemeinten Tipps beim Durchblättern entsprachen dem Niveau des Titels – für Normalbelichtete Leser zum Zerkugeln, à la Katze nicht in Mikrowelle stecken…

Auch im neuen Buch von Bestsellerautor Martin Lindstrom sind die Fallbeispiele real, aber als Leser nickt man bei jedem Satz mit dem Kopf und denkt: Ja, ach herrje, kenn‘ ich auch…

Ich griff zur Fernbedienung. Sie war erstaunlich komplex und möglicherweise hätte man damit sogar ein Raumschiff steuern können.… Drei separate Tastenfelder. Was bedeutet Quelle? Was bedeutet A-B-C-D?
Mit welchem der beiden On-Knöpfe schalte ich den Fernseher ein?

Lindstrom erfährt später von einem Techniker der Herstellerfirma, dass mehrere Abteilungen der Firma sich um den Platz auf der Fernbedienung gestritten hatten und sich so eben alle in eigenen Feldern verewigt hatten. Da kann man als Anwender nur den Kopf schütteln…

Der gesunde Menschenverstand ist die Summer unserer Fähigkeit, richtig von falsch zu trennen, wirksam von unwirksam, nützlich von nutzlos, wertvoll von wertlos, geordnet von ungeordnet, sauber von schmutzig, trocken von feucht, sicher von gefahrvoll, erwachsen von kindisch, vorteilhaft von nachteilig und klug von unklug.

Da fallen dem geneigten Leser/der Leserin doch glatt jede Menge passende Beispiele aus dem eigenen Umfeld ein, in denen diese Unterscheidung nach logischen Kriterien nicht geklappt hat. Nur bei anderen natürlich … 😉

Aber eigentlich kann man sich abschweifende Gedanken sparen, denn der Berater großer internationaler Unternehmen führt so viele Beispiele ausführlich und humorvoll auf, dass sich das Buch wie ein gut geschriebener Roman liest. Ich habe es von der ersten bis zur letzten Seite in einem Zug verschlungen.

Fluglinien und Flughäfen

Etliche der Beispiele kommen auch aus der Luftfahrt oder zumindest dem Verkehrswesen. Bei den Vorfällen bei Fluglinien und an Flughäfen (da kann man in einem fort nur ja-ja-Nicken und sich endlich verstanden fühlen…) ist die Sicht eher aus dem Passagierbereich. Wobei der gesunde Menschenverstand im Cockpit noch wichtiger und folgenschwerer ist.

Gesunder Menschenverstand ist praktisch. Er ist vernünftig. Er ist iterativ. Er ist dynamisch. Er ist offensichtlich (oder sollte es zumindest sein).

Warum berechnet man etwa aufs Kilo genau das Startgewicht eines Flugzeugs, wenn das Ergebnis einen Wert von 100 Tonnen hat und die Gewichte der einzelnen Reisenden nur mit Durchschnittswerten geschätzt und das Gewicht des Kerosins nur auf plus/minus einiger 100 Kilo bestimmt werden kann? Dabei wird eine Genauigkeit von 0,01 Promille suggeriert, obwohl das Resultat um einige Tonnen, also einige Prozent falsch sein kann.

Ein gesunder Menschenverstand führt häufig zu einem Gefühl von Glücklichsein, Produktivität und einer verbesserten Lebensqualität.

Corona Online Meetings

Zum Zerkugeln ist auch seine Schilderung der typischen Zoom/Goto/usw Konferenz seit Beginn der Coronazeit. Da wird einem so richtig vorgeführt, wie gleich viele Meetings ablaufen und welche Störfaktoren praktisch immer dominieren. Liest sich wie eine Komödie. Unbeschreiblich lustig, bis einem klar wird, dass das letzte Online-Meeting genauso ablief…

Viele Firmen versuchen alles in ihren Kräften Stehende, um Kosten zu senken, während sie gleichzeitig Maßnahmen beschließen oder einführen, die diese Kosten unterm Strich steigern.

Als Beispiele dazu führt er etwa Regeln auf, bei denen Mitarbeiter nur Economy fliegen dürfen, auch wenn auf dieser Strecke ein Business Class Flug einer anderen Airline kostengünstiger (und entspannter) wäre.

Regel und Vorschriften sind nach Lindstrom’s Auffassung etwas, das hinterfragt werden sollte. Wenn sie sinnvoll sind, müssen sie natürlich befolgt werden. Regeln und Vorgaben halten eine Gesellschaft zusammen. Klar. Aber wenn sie unsinnig werden, sollte man bedenken, was sie eigentlich bewirken sollen und das umsetzen. Dazu muss man aber den Sinn der Regel verstehen. Sie einfach nur zu brechen, weil es gerade Spaß macht, ist damit nicht gemeint.

Rund um den Globus ist „Compliance“ zu einer Entschuldigung dafür geworden, den Status quo zu schützen und dafür zu sorgen, dass Organisationen nicht vom rechten Weg abkommen. Um Dinge nicht zu tun.

In der heutigen Welt wird niemand je dafür gefeuert, Regeln befolgt oder durchgesetzt zu haben. Compliance verursacht Angst und schlägt den gesunden Menschenverstand aus dem Rennen.

Generell macht es Sinn, die Kosten für jeden einzelnen Flug einer Fluglinie zu optimieren. Die Crew soll also nicht schneller fliegen als die im Voraus berechnete ökonomische Geschwindigkeit. Zurück zur Home Base soll man bei Verspätung aber durchaus so schnell fliegen, dass alle Passagiere ihre Anschlussflüge erreichen können. Weiß man das schon beim Hinflug, könnte man auch da bereits ein wenig draufsatteln. Das aber ist in den Regeln nicht vorgesehen und so muss alles kostenintensiver in einem Flug aufgeholt werden.

Wir glauben ja gerne, dass Gesetze, Regeln und Bestimmungen aus gutem Grund existieren. Das gilt jedoch nicht, wenn sie unserem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen.

Ein stumpfes Anwenden der Vorschriften führt im obigen Beispiel zu einem kostspieligeren Ergebnis. Versteht man den Sinn der Regel – Kosten zu sparen – dann erreicht man in diesem Fall genau dies durch Nichteinhalten der Vorschrift.

Einschalten des gesunden Menschenverstandes setzt das Wissen für den Grund der Regel voraus und das Vertrauen, für den Bruch der Regel nicht bestraft zu werden.

Manchmal ist es schwerer, eine sinnentleerte Regel abzuschaffen, als sie einzuführen.

Die eigentliche Leserzielgruppe des Buches sind Mitarbeiter in Unternehmen, die etwas bewegen, ändern, können. Dass man die oftmals erst daraufhin stupsen muss und mit welchen Kniffen er es schaffte, zeigt Lindstrom ebenfalls in etlichen Beispielen auf. Und dann natürlich, was sich Positives nach den Änderungen für den Unternehmenserfolg und die Zufriedenheit der Kunden entwickelte.

Aber das Buch ist so vergnüglich zu lesen und vermittelt das warme Gefühl, dass man nicht der einzige ist, der so oft im Leben mit mangelndem Menschenverstand anderer 😉 konfrontiert wird, dass ich auch als Selbst (und) Ständig Arbeitender meine Freude daran habe.

Geeignet:

als Geschenk für Mitmenschen mit Hirn, die das auch zu gebrauchen wissen,
und (Vorsicht: Humor) für alle, bei denen man meint, dass es vielleicht für den Rest des Lebens hilft.


(c) Buchcover und Zitate: Plassen Verlag

Über die Autorin

Die Journalistin Helga Kleisny ist diplomierte Physikerin (TU Wien), Fallschirmspringerin und Pilotin. Nach Arbeitsorten weltweit (Wien, Taipeh, Boca Raton (FL), München, Frankfurt…) sind ihre Haupt-Lebens- und Arbeitsorte nun in Deutschland und in den USA. Sie schreibt als freie Luft- und Raumfahrtjournalistin. Ihre Begeisterung für alles Technische und die Natur, am besten in Kombination, zeigt sich in ihren Büchern und in Seminaren und Vorträgen.

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