Neues zu den Boeing 737 Max Crashes

Noch liegt kein offizieller Zwischenbericht vor, geschweige denn ein Abschlussbericht zu den Boeing 737 Max Abstürzen. Die Kernthesen, die zurzeit (sogar überwiegend korrekt) etwa im Spiegel zum Thema zu lesen sind, standen bereits nach dem ersten 737 Crash auf flugundzeit:

Boeing hat seinen Hauptsitz in Seattle. Dort wurde die 737 Max entwickelt und hergestellt. Und genau dort hat ein Kollege der Zeitung Seattle Times wohl investigative Recherchen nach dem ersten, dem Lion Air Absturz, angestellt und an Boeing und die Behörde FAA recht sinnvolle Fragen gestellt. Sie wurden bis zum zweiten Absturz nicht beantwortet.

So soll in den ursprünglichen Spezifikationen des MCAS Systems der Horizontal Stabilizer (= das Höhenleitwerk) pro Trimmung nur um 0,6 Grad nach oben getrimmt werden.* In den ausgelieferten Versionen der 737 Max waren und sind dies jedoch 2,5 Grad Neigung pro Trimmeingriff, das entspricht bereits fast dem halben Gesamtausschlag.

*Dadurch geht die Nase, der vordere Teil des Flugzeugs, nach unten.

Der Wert wurde später auf 2,5 Grad erhöht, weil sich in den Flugtests herausstellte, dass die 0,6 Grad nicht genügen, um einen Strömungsabriß etwa in sehr engen Kurven zu verhindern (High Speed Stall). Das sind Flugphasen, die im normalen Flug mit Passagieren nicht vorkommen. Trotzdem muss das Flugzeug dafür zugelassen sein. Deshalb entwickelte Boeing MCAS und dachte, dass dies im Passagierflug nie zum Einsatz kommen würde. Boeing vernachlässigte aber dabei das Problem einer Fehlfunktion des MCAS, wenn nur der einzige Inputsensor für seine Aktionen fehlerhafte Werte liefert.

Der Link hier zur Seattle Times und damit dem Bericht,
auf dem dieser Text inhaltlich beruht, geht auf eine amerikanische Zeitungsseite, die nicht der DSGVO unterliegt. Jeder Leser möge also bitte vor dem Klicken selber entscheiden, ob dies eventuell zu mehr Datensammeln führt, als die tägliche Facebook- oder Twitteraktivität.

Nach den Recherchen des Redakteurs sollen die Ingenieure, die an der Sicherheitsbewertung von MCAS beteiligt waren, nicht darüber informiert worden sein, dass das System bei der Auslieferung des Flugzeugs das Heckleitwerk fünfmal mehr bewegen konnte als die ursprünglichen Spezifikationen. Angeblich sollte die Dokumentation für die Zulassung so geändert worden sein, um die endgültige Konfiguration wiederzugeben, doch laut dem Seattle Times-Bericht war sie dies offenbar nicht.

Wäre dies der Fall gewesen, hätte die Schwere einer möglichen Fehlfunktion des Systems gefordert, Daten aus mindestens zwei Quellen zu erhalten.

Zusätzlich kann das MCAS seinen Trimm-Eingriff mehrfach durchführen. Genauer gesagt, unbegrenzt oft. Das bedeutet, das System hat unbegrenzte Möglichkeit, solange die Piloten nicht gegensteuern.

Unlinimted Authority =
unbegrenztes Einschreiten eines Computergesteuerten Systems ohne Redundanz darf es zum heutigen Stand der Technik in der Luftfahrt nicht geben.

Beim Lion Air Crash soll der Kapitän das MCAS System 21 Mal erfolgreich mit dem Trimschalter am Steuerhorn overruled haben. Danach übernahm der Copilot die Aktion der Gegenwehr, allerdings wesentlich zaghafter. Laut den Aufzeichnungen drückte er nur zweimal kurz auf den Trimmschalter. Wenn, wie oben beschrieben, zweimal also das MCAS nicht (effektiv) korrigiert wurde, dann lief es auf den maximalen Ausschlag, was zum Absturz führte.

Der von Boeing nun vorgeschlagene Software Update soll MCAS nur mehr einen einmaligen Eingriff erlauben und auf beiden Angle of Attack Sensorwerten basieren, nicht mehr nur auf dem Wert eines dieser Sensoren.

Boeing meinte ursprünglich, da das MCAS System nur im Notfall eingreifen würde, sei kein zusätzliches Pilotentraining dafür notwendig. Eine gewagte und – wie man mittlerweile an den beiden Crashs gesehen hat – sehr tödliche Einstellung.

Boeing: Der Griff zur Aktivierung des Runaway Switches und damit das Ausschalten des MCAS Systems hätte das Problem behoben und die Abstürze verhindert. Das ist zwar korrekt (und stand auch mehrfach in flugundzeit). Trotzdem sind Änderungen eines Systems, die nicht korrekt spezifiziert sind (2,5 statt 0,6) und im Flughandbuch nicht dokumentiert sind, Entscheidungen, für die sich der Hersteller verantworten wird müssen.

Die bereits seit Jahren andauernden finanziellen Kürzungen für die Behörde FAA, die schon lange an vielen Stellen am Limit knabbert, begünstigten die Übermacht des Herstellers über die eigentlich überwachende Behörde. Dass Flugzeughersteller wegen der schon lange vorhandenen Komplexität der Systeme eng mit der Zulassungsbehörde zusammen arbeiten, ist normal. Bei allen Flugzeugen weltweit, egal ob groß oder klein. In diesem Fall aber scheint mit der Dringlichkeit einer schnellen Zulassung und dem Drängen des Herstellers an die Behörde einiges, wie die ordnungsgemäße Überprüfung der Dokumentation, unter dem Tisch gefallen zu sein.

Dokumentationsabteilungen in der Luftfahrt (ich habe etliche Jahre dafür gearbeitet) werden üblicherweise von allen anderen Abteilungen als überflüssig, als Klotz am Bein, und als lästig angesehen. Trotzdem gilt:

It’s not over until the proper paper work is done.

Über die Autorin

Die Journalistin Helga Kleisny ist diplomierte Physikerin (TU Wien), Fallschirmspringerin und Pilotin. Nach Arbeitsorten weltweit (Wien, Taipeh, Boca Raton (FL), München, Frankfurt…) sind ihre Haupt-Lebens- und Arbeitsorte nun in Deutschland und in den USA. Sie schreibt als freie Luft- und Raumfahrtjournalistin. Ihre Begeisterung für alles Technische und die Natur, am besten in Kombination, zeigt sich in ihren Büchern und in Seminaren und Vorträgen.

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