2. Gastkommentar zum Lion Air Crash

Auf flugundzeit gab es bisher folgende Beiträge zu diesem Absturz:

Auswertung des vorläufigen Untersuchungsberichtes der indonesischen Behörde KNKT
Gastkommentar 1
Update 2
Update 1
Ursprungsbeitrag

Erneut wird nun ein fachlicher Kommentar als Beitrag zur besseren Lesbarkeit veröffentlicht. Kommentare enthalten zusätzlich zu den Fakten auch die persönliche Einschätzung von Menschen, die das beurteilen können. Mit Absicht steht hier nicht das abgedroschene und nichtssagende Wort: Experte.
Dieser Beitrag bezieht sich auf die oben verlinkten vorhergehenden Beiträge.


Flugkapitän kommentierte zu Update: Piloten arbeiteten gegen falsche Trimmung der Automatik bis zum Crash

Es ist erstaunlich zu sehen, wie unterschiedlich die beiden Crews mit dem gleichen Problem (fehlerhafter AOA) und den sich daraus ergebenden Folgen (Falsche Stall Warning (Stick Shaker), Air Speed und Altitude Disagree und falscher Nose Down Trim des MCAS) umgegangen sind.

Bei den drei Flügen ohne Geschwindigkeits- und Höhenangaben auf der Kapitänsseite war der Fall ja relativ überschaubar. Keine Geschwindigkeit oder ein Fahrtenmesser der auf null steht – das kann man leicht ignorieren. Es ist auch sofort klar, was richtig und was falsch ist.

Der Wechsel des AOA Sensors (ja, sieht so aus, als ob der falsch eingebaut wurde) hat die Sache dann verschlimmbessert.

Eine Stall Warning sofort nach dem Abheben kann nur eine Fehlwarnung sein. Denn wenn das Flugzeug abhebt, ohne mit dem Heck den Boden berührt zu haben (Tail Strike) dann war der Anströmwinkel (Angle of Attack) kleiner als der maximal mögliche Angle of Attack. Anders kann das Flugzeug garnicht abheben. Eine solche Stall Warning ist nahezu IMMER eine Folge eines falsch messenden AOA Sensors. Sie kann sogar auf einem A320 auftreten. Obwohl eine A320 drei AOAs hat und immer einen Plausibilitäts-Check macht (zeigt ein Wert von drei Quellen was ganz anderes an, dann wird er in der Airbus-Logik normalerweise ausgeschlossen) kommt es auch bei Airbus zur Stall Warning, wenn nur einer der drei AOAs einen entsprechenden Winkel misst. Allerdings bleibt ein Eingriff der Envelope Protection aus, wenn die beiden anderen sich einig sind und was anderes anzeigen.

Auf beiden Flugzeugtypen: B737 und A320 bedeutet eine Stall Warning nach dem Abheben, dass man die Pitch bei 15 Grad belässt (dort ist sie üblicherweise nach dem Abheben) und die Power auf Take/Off Power lässt oder dorthin bewegt. Denn so kann der Flieger nicht stallen und er steigt mit maximaler Performance vom Boden weg.

Als dann sofort die Speed Disagree dazu kam, hat auch das die Crew von Flug F nicht aus der Ruhe gebracht, denn für unreliable Airspeed nach dem Abheben gilt ebenfalls 15 Grad Pitch und T/O Power. Denn, wie gesagt, so kann das Flugzeug nicht stallen, es steigt mit maximaler Performance vom Boden weg und wird auch nicht schneller. Letzteres ist wichtig, damit man die maximal erlaubte Geschwindigkeit mit ausgefahrenen Klappen nicht überschreitet. All das sind Memory Items (Handlungen die auswendig gemacht werden, ohne die entsprechende Liste raus zu suchen und vor zu lesen).

Der Cross Check der Speeds und der Altitude mit den Standby Instrumenten zeigte, dass die CM2 Seite richtig anzeigt. Dort gab es ja auch keinen Stick Shaker. Die 737 zeigt ihren Piloten also klar an, mit welchem Sensor sie den Stall gemessen hat.

„Gezuckt“ hat die Crew von Flug F nur, als nach dem Einfahren der Klappen das MCAS anfing sein Unwesen zu treiben.

Doch ein Trim, der in eine Richtung „weg läuft“, ist ein klassischer Trim Runaway. Also für die Crew von Flug F nur ein weiteres Procedure mit Memory Items: Zurück trimmen und Cut Out Switch betätigen.

Dann haben sie sich zurück gelehnt und ’nen Kaffee bestellt. 😉

Sie waren sogar so tiefenentspannt, dass sie damit zum Zielflugplatz weiter geflogen sind.
Hier hätte man Goldrand-Lösungsmäßig über eine Landung am nächsten Flugplatz nachdenken können, da das Flugzeug so nicht mehr RVSM fähig war. Doch sie sind weitergeflogen und einfach tiefer (unter 29.000 Fuß) geblieben.

Das alles, obwohl sie mit diesen Problemen zumindest in dem Ausmaß nicht unbedingt rechnen konnten.

Anders die Crew des Fluges UF.

Offensichtlich erlag die Crew des Unfallfluges dem gleichen Trugschluss wie das MCAS. Der Flugweg wurde schon im Steigflug mit Klappen, als das MCAS noch „ruhig“ war immer flacher und damit schneller, weil sie sich zu langsam wähnten. Letztendlich überschritten sie dabei die Höchstgeschwindigkeit für ausgefahrene Klappen erheblich.

Die Memory Items für eine Stall Warning nach dem Abheben und für den Speed Disagree wurden nicht konsequent gemacht. Dann wurde der Trim Runaway durch das MCAS nicht als solcher erkannt. Also alle drei Verfahren, die die vorhergehende Crew problemlos absolvierte, wurden nicht ausgeführt.

Und das, obwohl sie ja über den vorhergehenden Flug informiert waren.
Da brieft man als Kapitän doch vor dem Abheben genau noch mal diese Verfahren, damit sie frisch im Gedächtnis sind, und damit Co und Kapitän auf dem gleichen Stand sind und man somit sofort zur Tat schreiten kann, wenn das Problem wieder auftritt. Warum waren sie so überrascht? Warum waren sie so unvorbereitet? Warum waren sie so überwältigt?

Ja, es ist nicht toll, dass Boeing das MCAS nicht besser dokumentiert hat.
Ja, es ist auch nicht gut, dass ein einzelner Sensor das MCAS in die Irre führen kann.
Doch Boeing für den Absturz verantwortlich zu machen [wie es etwa Der Spiegel reißerisch tut – Anmerkung hkl] ist etwas zu kurz gesprungen.
Der beste Beweis dafür ist die Crew von Flug F.

Doch die Frage, die auch flugundzeit schon gestellt hatte, bleibt nach wie vor:

Was ist in den letzten Sekunden passiert?

Offensichtlich konnte die Crew des Unglücksfluges die Situation nicht einschätzen, doch sie hielt den Flieger bis dahin durch ständiges Zurücktrimmen in der Luft. Kurz vor dem Absturz scheint sich aerodynamisch etwas verändert zu haben.

In dem Auszug der Flugdaten sieht man, dass die Steuerkräfte für die linke und rechte Steuersäule plötzlich nicht mehr symmetrisch sind.

[Vermutung Anmerkung hkl]:
Wurde die linke von der rechten Steuersäule mechanisch getrennt, sodass der linke Elevator nur noch von der CM1 Seite (Kapitän) und der rechte Elevator nur noch von der CM2 Seite (Co-Pilot) zu bedienen war? Was zwangsläufig dazu führen würde, dass der Pilot Flying plötzlich nur noch die Hälfte an Elevator Authority hatte, was vermutlich nicht ausreichte, um gegen den vertrimmten Stabilizer die Nase oben zu halten.

Es wäre sehr wichtig, den Voice Recorder zu finden. Dann wären wir bald schlauer.


Kommentare

2 Antworten zu „2. Gastkommentar zum Lion Air Crash“

  1. Vielen Dank Flugkapitän für deine Ausführungen. Bin selbst Segelflieger. Lese den Blog immer gern und schätzte vor allem die unaufgeregten Sachbeiträge zu Unfällen.

    Zwei Fragen stellen sich mir bei deiner Einschätzung:

    I
    Wird in einem Bodenbriefing der Piloten vor einem Flug nicht explizit angesprochen, was zu tun ist, wenn der Fehler erneut auftritt bei einem Flugzeug mit so einer technischen Vorgeschichte? Man sagt zumindest bei uns, ein Flugzeug aus der Werft sei doppelt genau zu checken (ob noch alles dran ist oder zu viel drin ist) 🙂

    II
    Ohne direkte Schuldzuweisung (die hätte Helga vermutlich eh gestrichen, haha) implizierst du, dass die Unglückscrew, hätte sie den Cutoff oder Cutout Switch (wie immer das Ding heißt) bedient, dass dann alle Menschen an Bord vom Lion Air Absturzflug noch am Leben wären? Unabhängig davon, was nun in der letzten Minute den Absturz tatsächlich triggerte?

    Auf flugundzeit wurden Prozeduren von Instrumentenflugcrews schon mehrfach diskutiert und der Tenor war eher eine Ablehnung dagegen, dass Piloten zuviele Prozeduren einfach abarbeiten, ohne zu wissen was technisch dahinter steckt.

    Danke für deine Zeit zur Klarstellung.

  2. Flugkapitän

    Hallo Sebastian,

    sorry für die späte Antwort. War unterwegs.

    Zu I:
    Ja, den Spruch gibt es auch bei uns. Traue keinem Flugzeug aus der Werft.
    Nicht weil wir den Technikern nicht trauen, sondern, weil es in der Natur der Sache liegt, dass immer dann, wenn man was auseinander genommen und wieder zusammen gesetzt hat, irgendetwas nicht in Ordnung sein kann.
    Bei bekannten Fehlern wird natürlich ein ausführliches Briefing und eine Bewertung anhand der MEL (Minimum Equipment List) gemacht, ob man damit überhaupt fliegen darf bzw. sollte.
    Hier bei dem Unfallflug waren ja alle Fehler von der Technik als behoben abgeschrieben. Der Flieger war also als total heil zu betrachten. Dennoch sollte man sich natürlich die Frage stellen, ob der Fehler nicht wieder auftreten kann. Gerade, wenn man sieht, dass schon mehrfach an einem Problem gearbeitet wurde und der Fehler in der einen oder anderen Form dennoch wieder aufgetreten ist.
    Ich denke, ich hatte das entsprechende Briefing auch in meinem Kommentar erwähnt.
    Ob es tatsächlich statt gefunden hat, das wissen wir leider noch nicht (Voice Recorder).

    Zu II:
    Verfahren sind gut und wichtig. Vor allem die, die Memory Items enthalten. Wie dieser Fall trauriger weise beweist. Denn ja, wenn der Cut Out Switch betätigt worden wäre, dann wäre auch dieser Flug anders verlaufen.
    SOPs (Standard Operating Procedures) sind schon allein wegen der Crew Coordination wichtig.
    Der Co muss wissen, wie der Kapitän reagiert und umgekehrt. Es muss klar festgelegt sein, wer was wann macht.

    Aber:
    Ein Verfahren ist ein Tool. Ein Werkzeug für die Piloten. Es darf nicht zum Selbstzweck werden. Wer eine Tätigkeit nur deshalb ausführen kann, weil er stumpf einem Verfahren folgt, der hat unter Umständen keine Ahnung, was er da tut und ob das im konkreten Fall zum Erfolg führt.
    Dennoch kann er oder sie eine ganze Zeit lang damit erfolgreich sein. Aber nur bis zu dem Punkt, an dem eine unerwartete Änderung eintritt. Hat die handelnde Person dann kein Hintergrundwissen oder sonst wie ein Verständnis führ die Zusammenhänge, dann ist sie „verloren“. Sie kann nur stumpf dem Verfahren folgen, auch wenn das gerade garnicht mehr passt.

    Deshalb:
    Ein Verfahren alleine reicht nicht. Es muss auch ein Verständnis der Zusammenhänge vorhanden sein. Also eine gute, fundierte Ausbildung und eine gewisse Erfahrung. Erfahrung kann man übrigens nicht lernen, sondern sich nur über die Zeit erarbeiten.
    SOPs müssen deshalb „sinnvoll“ angewendet und bei Bedarf adhoc abgewandelt werden können.
    Dafür bedarf es einer guten Situation Awareness und gutem TEM (Threat and Error Management).
    Siehe Hudson Unfall: Es gab ein Verfahren. Es war in der konkreten Situation und der daraus resultierenden kürze der Zeit nicht machbar. Es wurde aus dem Verfahren heraus mit viel Verständnis und Urteilsvermögen improvisiert und sogar eine bessere Lösung gefunden, als das Verfahren überhaupt vorgesehen hatte (Landung mit höherer Pitch und Klappen in Stellung 2 anstatt 3).

    Beurteilt man als Prüfer eine Crew im Hinblick auf „Adherence of Procedures“ (Verfahrenstreue), dann soll man folgendes bewerten. „Follows SOPs unless a higher degree of safety dictates otherwise“ (Befolgt ein Verfahren solange ein höheres Maß an Sicherheit nichts anderes erforderlich macht).
    Aus der „Prüfungsordnung“ ergibt sich also, dass es sogar gefordert wird, dass eine Crew von einem Verfahren abweicht, wenn anderweitig ein höheres Maß an Sicherheit erreicht werden kann.
    Doch dies Abwägung kann die Crew nur dann treffen, wenn sie weiß, was sie tut. Sie muss dafür nicht nur die Verfahren kennen, sondern eben auch die Hintergründe und Zusammenhänge – das Wiso und Warum.
    Ein alter Ausbilder und Prüfer hat das mal so formuliert: Nur ein Verfahren das Du kennst, kannst Du bewußt außer acht lassen.
    Man muss also alle Verfahren kennen und das Bewusstsein (Urteilsvermögen) haben, es, wenn nötig, auch mal außer acht zu lassen.

    Es kann und muss also unter Umständen sein, dass eine Crew von Prozeduren abweicht.
    Deshalb ist der Grundsatz der Verfahrenstreue, der ja eigentlich schon erstrebenswert ist, nur dann zu erreichen, wenn SOPs sinnvoll sind, dem Ausbildungsstand und dem kulturellen Umfeld der Crews entsprechen.
    Aus diesem Grund ist es – aus meiner Sicht – grundsätzlich abzulehnen, Verfahren des Flugzeugherstellers unreflektiert allen Flugbetrieben überzustülpen.
    Denn die Hersteller-Verfahren können immer nur ein schlechter Kompromiss aus den Anforderungen aller Kunden sein.
    Dadurch wird dann ein Abweichen von Verfahren zur Erhöhung der Sicherheit öfter nötig.
    Das wird aber nur in den Flugbetrieben passieren, die über eine entsprechende Qualität in der Ausbildung verfügen. Denn nur da werden die Crews das nötige Wissen und das nötige Standing haben, sich im Sinne der Sicherheit über weniger sinnvoll Verfahren hinwegzusetzen.
    Insgesamt betrachtet sinkt die Sicherheit dadurch.

    SOPs sind also ein sehr komplexes Thema.
    Also nichts für BWLer 🙂

Über die Autorin

Die Journalistin Helga Kleisny ist diplomierte Physikerin (TU Wien), Fallschirmspringerin und Pilotin. Nach Arbeitsorten weltweit (Wien, Taipeh, Boca Raton (FL), München, Frankfurt…) sind ihre Haupt-Lebens- und Arbeitsorte nun in Deutschland und in den USA. Sie schreibt als freie Luft- und Raumfahrtjournalistin. Ihre Begeisterung für alles Technische und die Natur, am besten in Kombination, zeigt sich in ihren Büchern und in Seminaren und Vorträgen.

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